Saarbrücker Zeitung, 19.02.2002
Auf alten Karten findet sich für unerschlossene, noch nicht kartographierte Räume der Hinweis Hic sunt leones - Hier sind Löwen. Wenn man als heutiger Betrachter den Blick
schweifen läßt über die nur von fern an die vertrauten Umrisse erinnernden Konturen der solchermaßen geographisch erfaßten Länder, wenn man inmitten des asiatischen oder afrikanischen Kontinents weiße Flächen findet, die unentdeckt geblieben waren, wenn man
daselbst eigentümlich vertraute und doch vollkommen fremde Ungeheuer gezeichnet findet, dann steigt zuweilen das Gefühl der Überlegenheit nachgeborener Generationen auf.
War es nicht naiv zu glauben, im Unbekannten lauerten Ungeheuer? - Und nichts anderes bezeichnen die Löwen, die von den alten Kartographen angeführt wurden.
Als ich noch ein kleiner Junge war, lebten in der Dunkelheit, die ab den Stunden der Dämmerung, in der Nacht, bis zum Morgen sich unter meinem Bett und in den Ecken meines Zimmers sich ausbreitete, seltsam schreckliche Wesen. Ich wagte weder einzuschlafen, noch
aufzustehen, weil ich glaubte, die Ungeheuer warteten nur darauf, daß ich den Schutz meiner Bettdecke verließe, um mich hinabzureißen in eine unsagbare Welt, aus der, so ahnte ich, kein Weg mehr zurück führte in das helle und freundliche Dasein meiner Tage.
Weder die Feststellungen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geographen noch die Beobachtungen des kleinen Jungen, der ich einmal war, sind naiv. In uns Menschen liegt eine Angst vor dem Dunklen, dem Unbekannten, die älter ist als wir, die als Atavismus einer noch rein animalischen Lebensform sich vererbt hat in unser Sein. Wir nehmen sie selten war, diese uralte Angst, jenes unbestimmte Grauen vor dem Unbekannten. Vielleicht, weil wir uns mit unserem Glauben an die Möglichkeiten des Verstandes weit, allzu weit entfernt
haben von einer schlichten und einfachen Form der Existenz. Über Jahrtausende unserer Geschichte unterhielten wir Schamanen und Priester, die unsere Angst vor der Dunkelheit beschworen, mit den wiederkehrenden Gesten und Worten von Ritualen aufhielten. Aber seitdem unsere Zivilisation der Rede des toten Christus vom Weltgebäude, daß kein Gott sei, gelauscht hat, seitdem ist es nicht mehr die Religion, die unsere Ängste zu bannen vermag.
Die Künstler, die Schriftsteller, Musiker, die Bildhauer und Maler sind jene Einsamen, die zwar nicht furchtlos, aber gleichwohl unerschrocken sich heute auf den Weg machen, die Ängste und die Dunkelheiten unseres Seins zu besprechen. Was ist Kunst anderes als der Versuch einer Beschwörung dessen, das sich dem Verstehen entzieht? Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt, schreibt Novalis und fährt auf die Vision seines romantischen Weltent-wurfes verweisend fort, der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben.
Monika Bugs Katzen sind in diesem Sinne Löwen. Sie sind zugleich Mahnmale und Wächterfiguren jener dunklen Welt, die uns im Letzten umgibt, die Teil unseres Selbst ist.
Jene fragilen Bleistiftzeichnungen, von denen diese Ausstellung eine Auswahl präsentiert, jene feinsten Linien und Schraffuren, die ihre Blätter strukturieren, lassen den Raum zwischen Innen und Außen ungeheuer schmal werden. Wie auf den alten Weltkarten ist die Katze eine Chiffre für das Unbekannte, die Gefahr, die außerhalb ist und zugleich in uns. Sie verwischt die systematische Trennung von innerer und äußerer Welt, die unsere
Zivilisation erdacht hat und mit Unbedingtheit zu verteidigen sucht, und verweist darauf, daß alle unsere Wege mehr innere Räume durchmessen als äußere.
Warum dies im Bild der Katze geschieht? Vielleicht weil diese Spezies so weit von uns entfernt ist, daß nicht der Schatten einer Verwandtschaft auf unser Verhältnis fällt.
Vielleicht, weil in dem solchermaßen unbedingt Anderen das Eigene deutlicher hervortritt. Aber ich möchte nicht den Versuch unternehmen, Monika Bugs' Bilder zu interpretieren und zu verstehen. Müssen Bilder, so fragte der Maler Balthus einmal, müssen Bilder denn unbedingt etwas bedeuten?
Ist es nicht vielmehr so, daß hier eine Künstlerin ihre Aufgabe, ihren Ruf ernst genommen hat und unerschrocken aufgebrochen ist in die Welt ihres Inneren und daß auf diesen Wegen Landkarten entstanden sind, die nicht mehr das nur Individuelle verzeichnen, sondern im Subjektiven das Allgemeingültige und Überzeitliche - wie dies jedes Kunstwerk, das seinen Namen verdient, tut?
Bis zu den Bleistiftgebieten, die wir am heutigen Morgen schauend durchmessen dürfen, war es ein weiter Weg: Monika Bugs ist nicht nur Künstlerin sondern auch Kunsthistorikerin. Vor einigen Jahren nutzte sie ein seit Winckelmanns Tagen gebräuchliches Abreib-Verfahren
zur Wiedergabe gravierter Inschriften, um in der Basilika Saint-Remi in Reims Frottagen mittelalterlicher Steintafeln anzufertigen. Diese Technik ist, wenn sie nur aus kunsthistorischer Perspektive zum Einsatz kommt, ein bloßes Kopierverfahren. Monika Bugs erzeugte jedoch
keine reinen Abbilder, sondern übersetzte, das alte, in Stein gemeißelte Bild in ein anderes, zeitgenössisches künstlerisches Medium. Das eigentümliche Spannungs-verhältnis zwischen Stein und Papier markiert nicht nur die zeitliche Differenz zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart, sondern auch die ideengeschichtliche.
Daß sie sich dabei der Frottage bediente, ist kein Zufall. In den frühen zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahr-hunderts hatte der Maler Max Ernst dieses Verfahren für die bildende Kunst neu entdeckt und weiterentwickelt. Die Frottage eröffnete ihm eine weitere Möglichkeit, dem
Unbewußten, das in uns west, eine ästhetische Form zu geben. Die surrealistische Bewegung um den franzö-sischen Schriftsteller André Breton, zu der Max Ernst zeitweilig gehörte, unternahm unterschiedlichste Anläufe, jene Dunkelheiten zu verbildlichen, sie in Kunstwerke
zu übersetzen. Vor dem Hintergrund der in diesen Jahren noch neuen Entdeckungen Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs spiegelt sich im Surrealismus das Bestreben, sich dem Rätselhaften und Hermetischen des menschlichen Seins zu nähern.
In dieser Tradition stehen die Zeichnungen von Monika Bugs. Das vielstimmige Flüstern der Katze ist der Versuch, hinter die Erscheinungen zu blicken. Hinter dem rein Phänomenologischen, hinter der in Variation wieder-kehrenden Form eines Katzenkopfes scheinen rätsel-
hafte Gesichte auf, stets im Profil, stets den in die Leere weisenden Blick gesenkt, eröffnen sich Einblicke in unendliche Räume.
Und wie in jedem wirklichen Kunstwerk findet sich in diesen Zeichnungen nicht der Versuch einer Antwort. Vielmehr stellen diese Bilder Fragen. Das Ungewisse, das in den Dunkelheiten zur Form gerinnt, ist auszuhalten. In diesem Sinne sind Monika Bugs' Zeichnungen Zumu-
tungen für den Betrachter. Hic sunt leones, Ungeheuer, die im Dunkeln darauf warten, uns hinabzureißen. Wenn wir uns jedoch darauf einlassen, auf die Schrecken, auf die
Abgründe, die letztlich nicht die Schrecken und Abgründe der Welt sind, sondern unsere eigensten, wenn wir, um ein Wort des Dichters Manfred Hausmann zu variieren, ins Dunkel gehen, weil wir des Lichts begehren, finden wir in diesen weglosen Räumen Wege.
Die Spannung, die es dabei auszuhalten gilt, ist die Differenz zwischen dem Unbedingten des Erkenntnis-
anspruches, den die Zeichnungen vertreten, und dem gleichwohl filigranen Gestus der Schraffuren, dem durchaus Weiblichen der zwischen Amorphem und Form changierenden Linien. Das Intime, an dem der Betrachter im Flüstern der Katze Teil haben darf, ist von souveräner Verletzlichkeit.
Das ist die Definition von Kunst, die Monika Bugs in diesen Arbeiten entwickelt - souveräne Verletzlichkeit.
Priv. Doz. Dr. phil. Sikander Singh
Universität des Saarlandes
Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass
Eröffnungsrede zur Ausstellung
Flüstern der Katze. Monika Bugs - Zeichnungen
Union Stiftung, Steinstraße 10, 66115 Saarbrücken
11. September bis 11. Oktober 2011
Couple illégitime, Zeichnung, Bleistift auf Papier,
29,7x21 cm, MB 17V10, couple illégitime
Saarbrücker Zeitung, 19.02.2002
Saarbrücker Zeitung, 28.05.2018
Werner Richner. Saarländische Künstler im Portrait. Hautnah. Saarbrücken 2017 (ohne Bild)